zum Inhalt

Sigmund Freuds Psychoanalyse

Freud hat die Psychoanalyse in erster Linie als Methode und Theorie einer psychotherapeutischen Praxis entwickelt und systematisiert. Freilich hat er dieses Forschungsfeld frühzeitig durch psychoanalytische Beiträge zur Analyse der Kultur überschritten. Damit wird fassbar, dass sich Freuds Denken von Anfang an in der Spannung zwischen drei Sinnfeldern entfaltet hat (vgl. König 1996):

  1. Das psychoanalytische Verstehen entwickelte sich in einer therapeutischen Praxis, die dadurch bestimmt wurde, dass Freud die traditionelle Arzt-Patient-Beziehung revolutionierte: Während Neurologen und Psychiater wie Charcot und Janet selbstherrliche Mediziner waren, die den Patienten einer Anamneseerhebung unterwarfen, ihn zum Objekt einer Behandlung machten und mit der Hypnose von seinem Innenleben Besitz ergriffen, gewannen Freuds PatientInnen ihre uneingeschränkte Selbstverfügung dadurch zurück, dass er sie dazu aufforderte, ihr Leiden frei assoziierend selbst darzustellen. Damit verwandelte sich der von Foucault als mächtiger Thaumaturg kritisierte Psychiater, dem der Wahnkranke hilflos ausgeliefert war (vgl. Foucault 1961, S. 535), in einen Seelenforscher, der den Erzählfaden seines Patienten stillschweigend verfolgte und ihm deutend antwortete. Wie Lorenzer (1984) ausführt, bedeutet diese Wendung zur Selbstdarstellung des Kranken methodisch den Übergang vom "Erklären" der vom Patienten beschriebenen Symptome im Rahmen eines naturwissenschaftlich gefassten Krankheitsschemas zum "Verstehen" der Mitteilungen des Analysanden, die der Analytiker in dem vom Kranken selbst erfahrenen Erlebniszusammenhang belässt, indem er sie als konkrete "Darstellungen seiner [sozialen] Lebenssituation" versteht und als "szenisch ausgebreitete Erzählungen" interpretiert (S. 123).
  2. Die therapeutische Praxis erforschte Freud in Auseinandersetzung mit einer psychoanalytischen Untersuchung kultureller Objektivationen. So brachte Freud (1905) die aufgrund klinischer Beobachtungen entwickelte Theorie der infantilen Sexualentwicklung, die dem "Kernkomplex" der Neurosenbildung zugrunde liegt, im Rekurs auf das von Sophokles verfasste Bühnenstück König Ödipus auf den Begriff. Wie die Kulturanalyse für die Entwicklung der psychoanalytischen Theorie der Sexualität bedeutsam war, die Freud aufgrund klinischer Beobachtungen entfaltete, so wurden seine therapeutischen Einsichten zum Ausgangspunkt für eine Kulturtheorie, im Zuge derer er das neurotische Leiden als Ausdruck eines allgemeinen "Unbehagens in der Kultur" begriff (vgl. Freud 1930), das darauf zurückzuführen sei, dass die Menschen unter einer Kulturentwicklung leiden, die auf der "Unterdrückung von Trieben" und auf ihrer nur teilweise gelungenen "Sublimierung" basiert (Freud, 1908, S. 18). Im Verlaufe der Entwicklung seiner kulturanalytischen Überzeugungen gelangte Freud zu dem Schluss, dass kulturelle Objektivationen die Menschen sowohl entmündigen als auch aufklären können. So begriff er die Religion als ein kulturelles Sinngebilde, das die Individuen vereinnahmt, weil es durch Glaubensgebote gegen Einwände der Vernunft immunisiert. Die Wirksamkeit der Appelle an einen Gottesglauben erklärte Freud (1927) folgendermaßen: Die große Erzählung von einem allmächtigen Gott, der im Jenseits für die im Erdenleben erlittenen Opfer entschädige, übe vor allem deshalb eine faszinierende Wirkung aus, weil sie sich an die tief im Erleben der Individuen schlummernde kindliche Sehnsucht nach einem guten Vater wende, der alles weiß und in seiner Fürsorglichkeit die Verantwortung für alles übernimmt (S. 140). Die Literatur stellt dagegen nach Auffassung von Freud eine kulturelle Objektivation dar, welche zur Entwicklung von Phantasie und zur Förderung von Aufgeklärtheit beiträgt, weil sie Lebensentwürfe in Szene setzt, die bislang als sozial anstößig galten und daher nicht bewusstseinsfähig waren. Das lässt sich anhand des durch Freud berühmt gewordenen Dramas des Sophokles illustrieren: Während dieses Drama zu seiner Zeit als "eine sogenannte Schicksalstragödie" aufgefasst wurde, deren "tragische Wirkung [...] auf dem Gegensatz zwischen dem übermächtigen Willen der Götter und dem vergeblichen Sträuben der vom Unheil bedrohten Menschen beruhen" sollte, gelangte Freud (1900) zu einem anderen Schluss: Die Wirkung auf den "tief ergriffenen Zuschauer" komme dadurch zustande (S. 266), dass Ödipus, der den Vater erschlägt und die Mutter heiratet, die "Wunscherfüllung" sexueller Triebimpulse vorführe, die den Zuschauern vertraut seien, weil sie diese Wünsche geteilt hätten, bevor sie im Verlaufe des Heranwachsens der Verdrängung unterworfen wurden (ebd., S. 267). Wie die Religion ein Beispiel für eine kulturelles Sinngebilde sei, das illusionäre Ersatzbefriedigungen verheiße, mit deren Hilfe sich die Gläubigen über das Leiden unter sozialen Zumutungen hinwegzutrösten versuchen, ermöglichen kulturelle Objektivationen wie Kunstwerke einen ästhetischen Genuss, weil sie die Auseinandersetzung mit unterdrückten Lebensentwürfen erlauben, die gesellschaftlich verpönt sind.
  3. Das psychoanalytische Verstehen beruht auf einer Entwicklung von Empathie, Introspektion und Selbstreflexivität, Kompetenzen, die Freud durch die Selbstanalyse entwickelte. Welche verdrängten Wünsche sich hinter den Symptomen seiner neurotischen Patienten verbargen, wurde Freud in dem Maße zugänglich, wie er die in Träumen und Fehlleistungen zum Ausdruck kommenden eigenen Wünsche, Ängste und Phantasien zu analysieren lernte. Und wie es seine Interpretation des Dramas von Sophokles verdeutlicht, erschloss er sich ein psychoanalytisches Verstehen der griechischen Tragödie über "die Wirkung" (ebd., S. 266) auf das eigene Erleben: Wir "schaudern zurück" vor Ödipus, weil er "uns zur Erkenntnis unseres eigenen Innern" nötigt, "in dem jene Impulse, wenn auch unterdrückt, noch immer vorhanden sind" (ebd., S. 267). Ob Freud den verborgenen Sinn von Patientenmitteilungen oder den abgründigen Sinn eines literarischen Werks zu verstehen sucht, das Verstehen der Inhalte bindet er an die Wirkung auf das eigene Erleben. So verknüpft Freud die Inhaltsanalyse von Anfang an mit einer Rezeptionsanalyse, welche das Interagieren zwischen dem Patienten und dem Analytiker, zwischen dem Text und dem Leser zum Ausgangspunkt für die Untersuchung des Materials macht. Da der psychoanalytische Interpretationsprozess damit steht und fällt, dass sowohl der Psychoanalytiker als auch der Kulturanalytiker die eigene Subjektivität zum Resonanzboden für das Verstehen von Worten und Texten machen, lassen sich Vorurteile und emotionale Widerstände gegen das Sich-Einlassen nur durch die Entwicklung von Empathie, Introspektion und Selbstreflexivität auflösen. Eben deshalb müssen sich Psychoanalytiker einer Lehranalyse so unterziehen, wie auch Kulturanalytiker über irgendeine Form analytischer Selbsterfahrung verfügen sollten.

Foucault, M. (1961): Wahnsinn und Gesellschaft. Frankfurt a. M. 1969: Suhrkamp.

Freud, S. (1900): Die Traumdeutung. Studienausgabe Bd. II. Frankfurt a. M. 1972: Fischer.

Freud, S. (1905): Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie. Studienausgabe Bd. V, Frankfurt a. M. 1972: Fischer, 37-145.

Freud, S. (1908): Die 'kulturelle' Sexualmoral und die moderne Nervosität. Studienausgabe, Bd. IX (S. 9-32). Frankfurt a. M.: Fischer.

Freud, S. (1927): Die Zukunft einer Illusion. Studienausgabe, Bd. IX, 135-189. Frankfurt a. M.: Fischer.

Freud, S. (1930): Das Unbehagen in der Kultur. Studienausgabe, Bd. IX, 191-270. Frankfurt a. M.: Fischer.

König, H.-D. (1996b): Methodologie und Methode der tiefenhermeneutischen Kultursoziologie in der Perspektive von Adornos Verständnis kritischer Sozialforschung. In: H. D. König, Hrsg., Neue Versuche, Becketts Endspiel zu verstehen. Sozialwissenschaftliches Interpretieren nach Adorno (S. 314-387). Frankfurt a. M.: Suhrkamp.

Lorenzer, A. (1984): Intimität und soziales Leid. Archäologie der Psychoanalyse. Frankfurt a. M.: Fischer.