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Psychoanalyse als Psychotherapiewissenschaft

Psychoanalyse als psychotherapeutische Forschungspraxis

Die klassische Psychoanalyse und die aus ihr entwickelten psychodynamischen Therapien (analytische Psychotherapie und tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie) konstituieren eine psychotherapeutische Praxis der Behandlung psychischer Störungen, die wissenschaftlich auf ihre Wirksamkeit hin gut erforscht ist (vgl. DPV 2001, DGPT 2011). Psychoanalytischen Behandlungen gehen von der Grundannahme aus, dass Denken, Fühlen und Handeln auf unbewussten psychischen Prozessen und Strukturen basiert. Darüber hinaus wird angenommen, dass sich die basalen seelischen Funktionen und Strukturen in der frühen Kindheit durch das Interagieren mit wichtigen Beziehungspersonen („Objekten“) ausbilden und in späteren Entwicklungsphasen ausdifferenziert werden. Die Psychoanalyse fokussiert vor allem die Störungen der frühkindlichen Interaktion mit signifikanten anderen, welche „die Entwicklung der psychischen Funktionen und Strukturen beim Kind und später beim Adoleszenten und jungen Erwachsenen“ beeinträchtigen (DGPT 2011, S. 7). Diese Beeinträchtigungen machen sich folgendermaßen bemerkbar:

  1. Die individuelle Verarbeitung der in der frühkindlichen Interaktion mit wichtigen Beziehungspersonen auftretenden Konflikte führt unbewusst zu unterschiedlichen neurotischen Lösungen, welche die Möglichkeiten der Lebensgeschichte empfindlich einschränken und anfällig machen für den Zusammenbruch in einer späteren Belastungssituation. Bei einer psychischen Erkrankung kommen also stets ein unbewältigter Kindheitskonflikt und eine Dekompensation in der Adoleszenz oder im Erwachsenenalter zusammen.
  2. Aufgrund deprivierender und/oder traumatisierender Lebensumstände in der Kindheit und fehlender Entwicklungsmöglichkeiten bilden sich basale strukturelle Funktionen (Fähigkeit zur Selbst- und Objektwahrnehmung, zur Symbolisierung und Realitätsprüfung, zur Affekt- und Impulskontrolle) nur in eingeschränktem Maße aus. Auf der Grundlage dieser strukturellen Störungen entwickeln sich schwierige Beziehungs- und Handlungsmuster sowie fragwürdige alltägliche Bewältigungsformen, die für psychische Störungen anfällig machen.
  3. Traumabedingte Erkrankungen stellen eine besondere Form der strukturellen Störung dar. Wenn bei kumulativen Traumata die Täter verinnerlicht werden, entwickelt sich eine unbewusste Neigung zur Wiederholung des Traumas. Das geschieht oft in selbstverletzender Weise. Zudem werden die traumatischen Erfahrungen vom Gedächtnis abgespalten. So können ganze Bereiche des seelischen Lebens abgeschaltet werden, die verinnerlichten pathologischen Beziehungsmuster bleiben weiterhin wirksam. Akute Traumata lassen massive Ängste entstehen, mit denen wichtige Ichfunktionen (Vertrauen in das Vorhandensein einer schützenden Beziehungsperson, Angsttoleranz, Angstkontrolle etc.) zusammenbrechen. Auch in diesem Fall sind pathologische Identifizierungen und Abspaltungen möglich.

Bei einer konkreten psychischen Erkrankung mischen sich konfliktbezogene und strukturbezogene Störungen in unterschiedlicher Weise.

Aufgrund dieser unterschiedlichen Gründe für psychische Erkrankungen unterscheiden sich auch die Ziele einer psychoanalytischen Behandlung:

  1. Wenn konfliktbedingte Störungen bearbeitet werden sollen, dann verfährt die psychoanalytische Behandlung aufdeckend: Die das neurotische Leid erzeugenden unbewussten Konflikte werden bewusst gemacht. So wird Einsicht in die abgewehrten Wünsche und Affekte (Angst, Wut, Trauer, Schuld etc.) gewonnen. Unbewusste Bindungen an Beziehungspersonen der Kindheit werden bewusst, Wie sich durch die Einsicht in das eigene Unbewusste die Macht des unbewussten Wiederholungszwanges auflösen lässt und abgetrennte Bereiche der eigenen Biographie integrierbar werden, so lassen sich nun ein realistisches Selbstbild und erwachsene Handlungsmuster entwickeln.

    Die aufdeckende Technik arbeitet mit dem von ‚Alfred Lorenzer (1970) so bezeichneten „szenischen Verstehen“, durch das sich das psychoanalytische Verstehen vom Alltagsverstehen unterscheidet (vgl. auch König 2014, S. 99ff). Vertraut aus dem Alltag sind nämlich das logische Verstehen, dem entsprechend man den logischen Sinn der gesprochenen Sätze versteht, und das psychologische Verstehen, dem entsprechend man anhand von Mimik, Gestik und Tonfall die Stimmungslage der Sprecherin versteht. Das szenische Verstehen des Psychoanalytikers geht zwar auch vom logischen Verstehen der Mitteilungen und vom empathischen Verstehen der Gefühle der Analysandin aus. Szenisches Verstehen bedeutet aber im Unterschied dazu, dass der Analytiker die von der Analysandin zur Sprache gebrachten Vorstellungen und die durch Mimik, Gestik und Tonfall zum Ausdruck gebrachten Affekte auf der Grundlage der Wirkung versteht, die sie auf sein Unbewusstes haben. Da der Analytiker durch sein affektives Verstehen teilnimmt an der Lebenspraxis, die durch das Erzählen der Analysandin im Behandlungsraum lebendig wird, erschließt sich ihm derart der unbewusste Sinn ihrer Mitteilungen.

    Auf der Grundlage des szenischen Verstehens finden die für die psychoanalytische Arbeit charakteristischen Klarifizierungen, Konfrontationen, Deutungen und Rekonstruktionen der Kindheit statt. Zudem werden der Widerstand, der sich während der Behandlung gegen die Bewusstmachung unbewusster Konflikte wendet, und die Übertragung analysiert, im Zuge derer - noch nicht bewusst gewordene - unbewältigte Beziehungsmuster der Kindheit in der therapeutischen Beziehung erlebbar werden.

  2. Wenn strukturelle Störungen zu bearbeiten sind, zielt die therapeutische Arbeit auf „eine Nachreifung der unentwickelten Funktionen“, die „zu stärken und in ihrer Entwicklung zu fördern“ sind (DGPT 2011, S. 11). Um das psychische Gleichgewicht und die strukturellen Funktionen zu stärken, steht der Therapeut als „Hilfs-Ich“ bereit, der durch seine Interventionen zur Verbesserung der Realitätsanpassung und zur Stärkung der reifen Abwehrmechanismen beiträgt, damit die Überflutung durch Affekte vermeidbar und handhabbar wird.
  3. Bei traumabedingten Erkrankungen hängt der Behandlungsschwerpunkt von der Eigenart des Traumas ab. Bei akuten Traumatisierungen geht es vor allem um Wiederherstellung der Angsttoleranz. Entscheidend ist, dass der Therapeut einen sicheren Rahmen schafft und als schützende Beziehungsperson zur Verfügung steht, mit der die Patientin oder der Patient sich identifizieren kann.

Wie unterschiedlich auch verfahren wird, die psychoanalytische Arbeit verfolgt zwei Ziele, die sich komplementär ergänzen:

  1. Die Behebung aktueller psychischer und/oder psychosomatischer Symptome, die durch eine äußere Belastungssituation oder durch die Aktualisierung eines inneren Konfliktes bei entsprechender psychischer Disposition entstanden sind. Dazu reicht häufig eine kürzere Behandlung aus.
  2. Die Analyse in der Biografie wurzelnder neurotischer Konfliktkonstellationen und die Förderung der Entwicklung basaler struktureller Funktionen. Diese strukturellen Veränderungen erfordern im allgemeinen eine langfristige Therapie.

Zusammenfassend heißt das, dass die Verknüpfung von aktuellen Konflikten und strukturellen Störungen, wie sie in der Therapie zustande kommt, im Kontext einer mehr oder weniger eingehenden Rekonstruktion der Lebensgeschichte die entscheidende Wirkung einer psychoanalytischen Behandlung ausmacht.

Grundsätzlich kann man zwischen drei psychodynamischen Therapiemethoden unterscheiden: Die klassische Psychoanalyse ist den deutschen Psychotherapierichtlinien entsprechend als Methode der Persönlichkeitsentwicklung konzipiert, für die eine hohe psychische Stabilität ohne psychische Störungen im Sinne der ICD-10 erforderlich ist (vgl. Dilling u. a. 1992). Wer Selbsterfahrung oder im Rahmen einer psychoanalytischen Ausbildung eine Lehranalyse sucht, unterzieht sich einer klassische Psychoanalyse. Sie findet im Liegen statt und ist bei einer Wochenfrequenz von drei bis fünf Stunden grundsätzlich zeitlich unbegrenzt.
In den beiden Formen der Psychoanalyse, die zur Behandlung psychischer Störungen entwickelt worden sind (tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie, analytische Psychotherapie) stellt sich das Setting dagegen so dar, wie es unter der Rubrik Psychotherapie beschrieben wird.

DGPT (2011): Stellungnahme zur Prüfung der Richtlinienverfahren gemäß §§ 13-15 der Psychotherapie-Richtlinie für die psychoanalytisch begründeten Verfahren. Forum der Psychoanalyse. Bd. 27. Sonderheft. Dezember.

Dilling, H., W. Mombour, M. H. Schmidt (Hrsg.)(1992): Internationale Klassifikation psychischer Störungen. ICD-10 Kapitel V (F). Bern, Göttingen, Toronto, Seattle 1993: Huber.

DPV (2001): Indikation und Wirksamkeit. Psychoanalyse und psychoanalytische Verfahren in der medizinischen Versorgung. In:www.psychotherapie-sychoanalyse.de/down/dpv_broschuere.pdf (pdf) Zugriff am 8.3.2019.

König, H.-D. (2014): Affekte. Gießen: Psychosozial-Verlag.

Lorenzer, A. (1970): Sprachzerstörung und Rekonstruktion. Frankfurt a. M.: Suhrkamp.