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Tiefenhermeneutik

Tiefenhermeneutik als qualitativ-interpretative Forschungsmethode

Im engeren Sinne wird der Begriff der Tiefenhermeneutik für die von Lorenzer (1986) anhand von Literatur entwickelte Methode der psychoanalytischen Kulturforschung verwendet, welche den latenten Sinn von Narrationen über die Wirkung auf das Erleben einer Gruppe von InterpretInnen untersucht. Sie unterscheidet sich entschieden von der naiven Anwendung der Psychoanalyse auf die Kultur, im Zuge derer die in der therapeutischen Praxis entwickelten Freudschen Begriffe gedankenlos auf soziale Prozesse übertragen werden (vgl. König 2008, S. 131 ff). Die Gefahr, die Eigendynamik kultureller Prozesse durch Psychologisieren und Pathologisieren zu verkennen, vermeidet die Tiefenhermeneutik, indem sie die in der therapeutischen Praxis entwickelte Methode des »szenischen Verstehens« (vgl. Lorenzer 1970) auf eine methodologisch reflektierte Weise modifiziert, so dass sie dem jenseits der Couch gelegenen Forschungsfeld gerecht wird und einer qualitativen Forschungspraxis entsprechend dazu geeignet ist, Neues zu entdecken.

Wer sich der Tiefenhermeneutik als sozialwissenschaftlicher Methode bedient, hat eine Reihe von Regeln einzuhalten, die König (2000, 2001, 2018a) eingehend beschrieben hat. Die wichtigsten Regeln lassen sich folgendermaßen umreißen:

  1. Die Analyse geht von der Wirkung des narrativen Interviews, der Gruppendiskussion oder des Beobachtungsprotokolls auf das eigene Erleben aus, weil der affektive Gehalt der sich in ihnen objektivierenden sozialen Interaktionen erfasst werden soll. Denn Akteure sprechen nicht nur miteinander, sondern teilen durch Tonfall, Mimik und Gestik auch ihre Affekte mit, die sozial akzeptiert sind oder als anstößig gelten. Die Analyse fokussiert daher bewusste und unbewusste Lebensentwürfe (Wünsche, Ängste, Phantasien), welche die Akteure in symbolischen Interaktionen ausdrücken oder verschweigen.
  2. Zu erschließen ist die Doppelbödigkeit sozialer Interaktionen, deren Bedeutung sich in der Spannung zwischen einem manifesten und einem latenten Sinn entfaltet. Während der manifeste Sinn sozialen Handelns Niederschlag bewusster Lebensentwürfe ist, über die sich die Akteure sprachlich verständigen, artikulieren sich auf der latenten Bedeutungsebene uneingestandene Lebensentwürfe. Hierbei handelt es sich um noch nicht bewusst gewordene Lebensentwürfe, die niemals sprachlich lizensiert wurden, oder um verdrängte Lebensentwürfe, die aufgrund ihrer Unvereinbarkeit mit der gesellschaftlichen Moral wieder ihre sprachliche Akkreditierung verlieren, sich jedoch unter dem Druck eines Wiederholungszwanges verhaltenswirksam in sozialen Interaktionen durchsetzen.
  3. Das dem kognitiven Verstehen der Texte zugrunde liegende affektive Verstehen lässt sich mit Hilfe der von Freud (1912) so bezeichneten Regeln der »freien Assoziation« und der »gleichschwebenden Aufmerksamkeit« für den Interpretationsprozess nutzbar machen.
  4. Vor allem irritierende Inkonsistenzen, Ungereimtheiten und Brüche im Text erschließen einen Zugang zu einem hinter dem manifesten Sinn verborgenen latenten Sinn.
  5. Das Verstehen des Datenmaterials geht zwar vom je eigenen Erleben aus, wird jedoch in eine Gruppeninterpretation eingebracht (vgl. König 1993, S. 206 ff.), in der die prismatische Brechung des Textes durch eine Vielzahl von Leseindrücken unterschiedliche Verstehenszugänge erschließt, aus denen eine Deutung konstruiert wird.
  6. Das sich der Umgangssprache bedienende szenische Verstehen stellt das erste Feld der tiefenhermeneutischen Fallrekonstruktion dar. Das theoretische Begreifen der Interpretation bildet dagegen das zweite Feld der psychoanalytischen Kulturforschung, im Zuge derer das Neue, das durch die szenische Interpretation entdeckt wurde, typisiert und auf der Basis einer sozialen und historischen Kontextualisierung verallgemeinert wird.

Die Tiefenhermeneutik untersucht, wie Verständigungsprozesse durch symbolische Interaktion ermöglicht oder durch symptomatisches Agieren blockiert werden. Das verdeutlichen zwei Anwendungsformen: Vermittels der Tiefenhermeneutik lässt sich rekonstruieren, dass kulturelle Objektivationen wie politische Reden (König 2015) oder kommerzielle Werbung (König 1992), Filme (König 2011) oder Literatur (König 1996) die Adressaten aufklären oder manipulativ vereinnahmen: Entweder werden bislang unbewusste Lebensentwürfe öffentlich zur Debatte gestellt, um herrschende Verhältnisse in Frage zu stellen; oder es werden in der Tiefe unbewussten Erlebens wirksame Ängste oder aggressive Impulse aufgegriffen, um für Vorurteile oder eine den status quo rechtfertigende Weltanschauung einzunehmen. Die tiefenhermeneutische Biografieforschung (vgl. König, Nittel 2016, König 2018b) erfasst, wie Lebensgeschichte bewusst und unbewusst verarbeitet wird: Kreative Wandlungsprozesse (Schütze 1994) beruhen auf einem symbolischen Interagieren, bei dem das Individuum eine Krise durch Selbstreflexion und durch eine schöpferische Regression auf unbewusste Lebensentwürfe produktiv löst. Verlaufskurven des Erleidens (Schütze 1995) basieren hingegen auf einem symptomatischen Agieren, bei dem eine Krise das Auftauchen verdrängter Lebensentwürfe provoziert (Angst, Ohnmacht, Wut), die sich hinter dem Rücken der bewussten Selbstverfügung blind durchsetzen.

Die sozialisationstheoretische Auswertung tiefenhermeneutischer Fallrekonstruktionen zeichnet entweder nach, wie soziale Herrschaft durch die Vereinnahmung unbewusster Erlebnisfiguren in der Tiefe der Subjekte verankert wird. Oder das sozialisationstheoretische Begreifen zeigt, wie Subjekte sich aufgrund unbewusster Lebensentwürfe sozialen Zumutungen widersetzen und eine Phantasie entfalten, die Möglichkeiten sozialer Veränderung ausmalt.

Freud, S. (1912): Ratschläge für den Arzt bei der psychoanalytischen Behandlung. Studienausgabe, Erg. Bd. (S. 169-180). Frankfurt a. M. 1975. Fischer.

König, H.-D. (1992): Der amerikanische Traum. Eine tiefenhermeneutische Analyse gesellschaftlich produzierter Unbewußtheit. In: H. A. Hartmann, R. Haubl (Hg.): Bilderflut und Sprachmagie. Fallstudien zur Kultur der Werbung, S. 50-69. Opladen (Westdeutscher Verlag).

König, H.-D. (1993): Die Methode der tiefenhermeneutischen Kultursoziologie. In: T. Jung, S. Müller-Doohm (Hg.): "Wirklichkeit" im Deutungsprozeß. Verstehen und Methoden in den Kultur- und Sozialwissenschaften, S. 190-222. Frankfurt a. M. (Suhrkamp) 1993.

König, H.-D. (1996): Todessehnsüchte und letztes Aufbegehren. Eine tiefenhermeneutische Rekonstruktion des Endspiels. In: König, Hrsg., Neue Versuche, Becketts Endspiel zu verstehen. Sozialwissenschaftliches Interpretieren nach Adorno S. 250-313. Frankfurt a. M.: Suhrkamp.

König, H.-D. (2000): Tiefenhermeneutik. In: Flick, U.; v. Kardoff, E. & Steinke,I.(Hrsg.): Qualitative Forschung: Ein Handbuch (S. 556–568). Reinbek bei Hamburg: Rororo.

König, H.-D. (2001): Tiefenhermeneutik als Methode psychoanalytischer Kulturforschung. In: H. Appelsmeyer, E. Billmann-Mahecha (Hg.): Kulturwissenschaft (S. 168-194). Weilerswist: Velbrück.

König, H.-D. (2011): Liebe, Tod und Tanz. Tiefenhermeneutische Rekonstruktion des Films Kirschblüten von Doris Dörrie. In: Psychosozial 34. Jg., Nr. 126 (S. 93-124).

König, H.-D. (2015): Die frohe Botschaft der guten Mutter. Tiefenhermeneutische Rekonstruktion einer Rede von Angela Merkel. In: Angelika Ebrecht-Laermann, Jan Lohl (Hrsg.): Psychoanalyse-Geschichte-Politik, 105-127. Psychosozial Nr. 139. 38. Jg.

König, H.-D., D. Nittel (2016): Die Dialektik von Lern- und Leidenserfahrungen: Narrationsanalytische und tiefenhermeneutische Rekonstruktion der Biographie einer Brustkrebspatientin. In: C. Detka, Hrsg., Qualitative Gesundheitsforschung. Beispiele aus der interdisziplinären Forschungspraxis (S. 51-124). Opladen, Berlin, Toronto: Barbara Budrich.

König, H.-D. (2018a): Dichte Interpretation. Zur Methodologie und Methode der Tiefenhermeneutik. In: Julia König, Nicole Burgermeister u. a. (Hrsg.): Dichte Interpretation. Tiefenhermeneutik als Methode qualitativer Forschung, 13-86. Wiesbaden: Springer VS.

König, H.-D. (2018b): Von einem Neonazi fasziniert. Psychoanalytische und soziologische Rekonstruktion eines narrativen Interviews mit einem Soziologiestudenten. In: Julia König, Nicole Burgermeister u. a. (Hrsg.): Dichte Interpretation. Tiefenhermeneutik als Methode qualitativer Forschung, 277-346. Wiesbaden: Springer VS.

Lorenzer, A. (1970). Sprachzerstörung und Rekonstruktion. Frankfurt a. M.: Suhrkamp.

Lorenzer, A. (1986). Tiefenhermeneutische Kulturanalyse. In A. Lorenzer (Hrsg.), Kultur-Analysen. Psychoanalytische Studien zur Kultur (S. 11-98). Frankfurt a. M.: Fischer.

Schütze, F. (1994): Das Paradoxe in Felix’ Leben als Ausdruck eines „wilden“ Wandlungsprozesses. In: H.-C. Koller, R. Kokemohr, Hrsg., Lebensgeschichte als Text. Zur biographischen Artikulation problematischer Bildungsprozesse (S. 13-60). Weinheim: Deutscher Studien Verlag.

Schütze, F. (1995): Verlaufskurven des Erleidens als Forschungsgegenstand der interpretativen Soziologie. In: Heinz-Hermann Krüger, Winfried Marotzki, Hrsg., Erziehungswissenschaftliche Biographieforschung (S. 116-157). Heidelberg: Springer VS.