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Psychoanalyse als Sozialwissenschaft

1. Sigmund Freuds Kulturkritik und die sozialpsychologische Forschung der Kritischen Theorie

Mit der Psychoanalyse hatte Freud eine Methode der psychotherapeutischen Behandlung von neurotischem Leiden entwickelt, das er in seinen kulturkritischen Schriften (vgl. Freud 1901, 1908, 1921, 1927, 1930) als Sonderfall eines allgemeinen Leidens aller Menschen unter einer Kulturentwicklung betrachtete, die auf der »Unterdrückung von Trieben« und auf ihrer »Sublimierung« basiere (Freud 1908, S. 18). Seines Erachtens werde der Mensch neurotisch, »weil er das Maß von Versagung nicht ertragen kann, das ihm die Gesellschaft im Dienste ihrer kulturellen Ideale auferlegt« (Freud 1930, S. 218).

Freuds Kulturkritik dokumentiert nach Auffassung von Theodor W. Adorno das soziale Problem der »Unentrinnbarkeit kultureller Konflikte« (Adorno 1952, S. 23). Da das »Leiden« Zeugnis von der »Objektivität« ablege, »die auf dem Subjekt lastet« (Adorno 1966, S. 29), stelle sich der Antagonismus von Individuum und Gesellschaft als unaufhebbar dar. Unter Max Horkheimers Leitung wurde am Frankfurter Institut für Sozialforschung mit Hilfe der Psychoanalyse die Frage erforscht, wie es in den Krisenzeiten der Weimarer Republik dazu kam, dass sich die ärmeren Bevölkerungsschichten nicht radikalisierten und Klassenbewusstsein entwickelten, sondern ihren ökonomischen und sozialen Interessen entgegen den Nationalsozialist_innen zur Macht verhalfen.

Die mit diesem Forschungsinteresse etablierte Disziplin einer analytischen Sozialpsychologie (vgl. Dahmer 1970, Wirth, Schülein 2011, Brunner u. a. 2013) sollte untersuchen, wie es möglich sei, dass »das Handeln numerisch bedeutender sozialer Schichten nicht durch Erkenntnis, sondern durch eine das Bewusstsein verfälschende Triebmotorik bestimmt« werde (Horkheimer 1932, S. 59). Während zunächst unter Erich Fromms (1929, 1936) und späterhin unter Adornos Regie die für antidemokratische Propaganda anfällige autoritäre Persönlichkeit untersucht wurde (vgl. Adorno u. a. 1950), analysierte Leo Löwenthal (1949) die Propagandatricks faschistischer Agitator_innen, die rationale Überlegungen durch den Appell an irrationale und unbewusste Wünsche unterlaufen. Horkheimer und Adorno (1947) rekonstruierten zudem in der Dialektik der Aufklärung die Eigenart der antisemitischen Weltanschauung, die wahnhafte, religiöse und autoritär-nationalistische Versatzstücke miteinander verschmilzt.

2. Vom Positivismusstreit in der Soziologie zu Alfred Lorenzers sozialwissenschaftlicher Rekonstruktion der Psychoanalyse

War im Zuge des Autoritarismusprojektes eine neue Form empirischer Sozialforschung entwickelt worden, welche die qualitative Vorgehensweise der auf klinischen Interviews basierenden psychoanalytischen Charakterforschung (vgl. Bonß 1982, S. 217 ff) mit den Methoden quantitativer Vorurteilsforschung verband, so gab der in den sechziger Jahren ausgetragene Positivismusstreit der Methodendiskussion neue Impulse. Adornos (1969a, 1969b) im Rahmen seiner Auseinandersetzung mit den analytisch-empirisch verfahrenden Sozialwissenschaften explizierte Methode einer kritischen Sozialforschung, welche die lebendige Erfahrung der Sache durch eine deutende Spurensicherung dechiffriert, die über exemplarische Einzelfallrekonstruktionen im Besonderen das Gesellschaftlich-Allgemeine erfasst, wurde zur Grundlage einer wissenschaftstheoretischen Auseinandersetzung um die Psychoanalyse.

In Anschluss an die von Jürgen Habermas (1968) entwickelte Kritik am szientistischen Selbstmissverständnis der Psychoanalyse als Naturwissenschaft rekonstruierte Lorenzer (1970) die Psychoanalyse einerseits erkenntnistheoretisch als kritisch-hermeneutische Wissenschaft von der menschlichen Natur (Lorenzer 2002, J. König 2016). Andererseits rekonstruierte er, wie die Psychoanalyse als hermeneutisch verfahrende Sozialwissenschaft zu verstehen sei. Die sozialwissenschaftliche Neubestimmung der therapeutischen Psychoanalyse als »Tiefenhermeneutik«, wie Lorenzer (1970; 1974, S. 153ff.) diese Methode bezeichnete, wurde zum Ausgangspunkt für die interaktions- und sozialisationstheoretische Reformulierung der psychoanalytischen Persönlichkeits- und Kulturtheorie, die der Dechiffrierung der Metaphorik der Metapsychologie, der Aufhebung der Geschichts- und Gesellschaftsblindheit der Freud‘schen Begrifflichkeit und der Integration und Systematisierung der Theoriekonstruktionen diente (vgl. Lorenzer 1972; 1974, S. 218ff.). So entwickelte Lorenzer (1986) auf der Basis seiner sozialwissenschaftlichen Rekonstruktion der Verfahrensweise und der Theorie der Psychoanalyse anhand von Literaturinterpretationen die von ihm entwickelte Methode der tiefenhermeneutischen Kulturanalyse.

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